Bei der Frage, ob es Wunderheilungen gebe, führen Skeptiker häufig die äußerst geringe Anzahl an Heilungen an, bei denen Mediziner keine überzeugende Erklärung haben. Obwohl jedes Jahr vier bis sechs Millionen Menschen Lourdes besuchen, hat die römisch-katholische Kirche bei diesem Ort gerade einmal 70 – vermeintliche – Wunderheilungen anerkannt. Das heißt, dass man sich bei einer solch katastrophalen Quote die Fahrt nach Lourdes getrost sparen kann. Sollte Gott – unter der Annahme, es gäbe ihn – nicht ein Interesse habe, öfter in Erscheinung zu treten, um Leute zum Glauben zu bringen?
Selbst wenn sich unter Heilungen tatsächlich Wunder(heilungen) zu finden wären, bedeutet das übrigens nicht, dass ein Gott dahinterstünde, es wäre allenfalls ein allgemeiner Hinweis auf die Existenz von etwas Übernatürlichem. Man sehe sich dazu den Wikipedia-Eintrag von Wunder an, der den Begriff nicht zwangsläufig mit Gott in Verbindung bringt.
Ein weiterer Aspekt vermeintlicher Wunderheilungen ist, dass es nur zum jetzigen Zeitpunkt keine überzeugende medizinische Erklärung gibt. Heute rätselhafte Heilungen könnte man in Zukunft vermutlich erklären. Wir wissen z.B., dass Tumoren in seltenen Fällen schrumpfen und wieder ohne verschwinden können. Man versteht hier noch nicht alle Mechanismen, dennoch spricht alles für eine medizinische Ursache solcher spontanen Remissionen. Die Lücken im Verständnis werden immer kleiner, sodass es wenig Sinn ergibt, bestehende Lücken mit Gott oder etwas Übernatürlichen zu füllen, da sich der sogenannte Lückenbüßer-Gott nicht bewährt hat.
Spektakuläre Heilungen, etwa bei Amputationen?
Ein vielleicht noch besseres Argument gegen Wunderheilungen ist, dass über extrem spektakuläre Heilungen nichts bekannt ist. Alles scheint mindestens noch im Grenzbereich des medizinisch Erklärbaren zu liegen. Richtig überzeugend wäre, wenn bei einem Patienten ein amputiertes Bein nachwachsen würde, denn über diese Fähigkeit verfügt der menschliche Organismus nicht. Noch weit beeindruckender wäre es, wenn amputierte Gliedmaßen plötzlich – schwupp – wieder da wären. Immerhin soll Gott den Menschen laut Bibel aus Lehm erschaffen haben, sodass er in der Lage sein sollte, auch ein Bein wieder spontan entstehen zu lassen.
Bisher ging ich davon aus, dass keine vermeintlichen Wunderheilungen dieser Kategorie bekannt seien, wodurch das Argument in Frageform „Warum heilt Gott keine Amputierten?“ der vielleicht überzeugendste Hinweis gegen Wunderheilungen wäre (auf der Website Why won’t God heal amputees? wird diese Frage gar zur wichtigsten Frage erklärt, die man über Gott stellen kann). Dabei wäre es für Gott die beste Werbung. Er könnte mit solchen Heilungen viele Ungläubige und Zweifler beeindrucken.
Doch zu meiner Verblüffung teilte mir der Christ und YouTuber Heinrich mit, dass ich im Irrtum läge und zumindest ein Fall eine geheilten Amputierten dokumentiert sei. Den Fall wollen wir uns einmal näher anschauen.
Il Miracolo – Das Wunder aller Wunder?
Das vermeintliche Wunder soll sich im spanischen Calanda zugetragen haben. Der 20-jährige Miguel Juan Pellicer hatte 1637 einen schweren Unfall. Er war mit einem Ochsenwagen unterwegs und offenbar eingeschlafen. Er fiel vom Wagen und sein rechtes Bein wurde vom Wagenrad überrollt, wodurch sein Schienbeinknochen zerdrückt wurde. Er kam in das Spital in Valencia, in dem man ihm aber kaum helfen konnte. Pellicer bat um eine Verlegung in das „Königliche Spital Unserer Gnadenreichen Frau“ in Saragossa, von dem er glaubte, dass man ihn dort erfolgreich behandeln könnte. Anfang Oktober 1637 erreichte er nach 50 Tagen Reise vollkommen erschöpft und mit hohem Fieber das Spital. Zunächst beichtete er und empfing die heilige Kommunion. Die Ärzte stellten fortgeschrittene Gewebsnekrose im Bein fest, sodass eine sofortige Amputation notwendig wurde. Die Amputation wurde auf der Höhe von vier Fingern unterhalb des Knies durchgeführt.
Die an der Amputation beteiligten Ärzte Juan de Estanga und Diego Millarue sowie der Praktikant Miguel Beltran sollen später unter Eid ausgesagt haben, dass das Bein tatsächlich amputiert worden sei.
Das amputierte Bein übergaben sie Juan Lorenzo Garcia, einem jungen Praktikanten, der bei der Operation assistiert hatte. Zusammen mit einem Kollegen soll dieser dann das Bein in einem 21 cm langen Loch auf dem Friedhof vergraben haben.
Im Frühjahr 1638 wurde Pellicer mit einer Holzprothese und Krücken aus dem Spital entlassen. Unfähig, einer Arbeit nachzugehen, verdingte er sich fortan als Bettler am Eingang der Basílica del Pilar in Saragossa. Anfang März 1640 ging Pellicer zurück nach Calanda zu seinen Eltern. Er stellte seinen Beinstumpf zur Schau und sammelte Almosen in den umgrenzenden Dörfern.
Am 29. März 1640 ging Pellicer nicht zum Almosensammeln. Spät abends soll dann die Mutter nach ihrem Sohn geschaut haben. Dabei will sie ihn schlafend mit zwei gesunden Beinen vorgefunden haben. Sie rief ihren Mann hinzu. Die beiden haben dann Pellicer geweckt und sagten ihm, dass sein Bein nachgewachsen sei. Pellicer, der verständlicherweise sein Glück kaum fassen konnte, will geträumt haben, dass er seinen Beinstumpf mit dem Öl aus der Lampe in der Heiligen Kapelle der Muttergottes aus Pilar eingerieben hätte. Für ihn war klar, dass Jesus Christus dieses Wunder bewirkt hat.
Auf dem wiederhergestellten Bein soll die Narbe vom beim Unfall erlittenen Schienbeinbruch sichtbar gewesen sein. Bei einer Überprüfung habe man auf dem Friedhof keine Spuren mehr von seinem Bein finden können.
Im Mai 1640 haben die staatlichen Behörden Saragossas einen Prozess anberaumt, um die Umstände des Wunders zu untersuchen. 24 Zeugen – darunter Ärzte, Pfleger und Angehörige – wurden gehört. Am 27. April 1641 wurde ein Dekret erlassen, dass die Wiedererlangung des amputierten Beines durch Eingreifen Gottes erfolgt sei.
Alternative Erklärung
Der Autor Brian Dunning (* 1965) hat zunächst Zweifel an dem Teil der Geschichte, bevor die Amputation durchgeführt worden sein soll. Denn Pellicer hätte bei Wundbrand eine Sepsis entwickeln müssen und wäre höchstwahrscheinlich nach wenigen Stunden daran gestorben. Mit Gewebsnekrose hätte er nicht 55 Tage überleben können. Dass das Beingewebe tatsächlich abgestorben war, daran gibt es anhand der medizinischer Protokolle, die die Verletzung als „phlegmonös“ und „gangränös“ beschreiben, was offen und feucht und „schwarz“ bedeutet, kaum Zweifel.
Auch gibt es keine Dokumente oder Zeugenaussagen, die bestätigen, dass sein Bein jemals verloren war. Dunning präsentiert eine alternative Erklärung, nach der Pellicers Bein während der fünf Tage im Spital keine Gewebsnekrose entwickelt hätte. Stattdessen hätte er die nächsten 50 Tage mit der Genesung verbracht, während dieser er nicht arbeiten konnte, und begann zu betteln. Er entdeckte, dass ein gebrochenes Bein ein Segen war. Nachdem sein Bein verheilt war kam Pellicer zu der Erkenntnis, wenn sich mit einem gebrochenes Bein beim Betteln gute Einnahmen erzielen lassen, dass ein fehlendes Bein noch mehr Erfolg bringen müsste. Auf der Reise nach Saragossa band er sein rechtes Vorderbein hinter seinem Oberschenkel zusammen und nahm zwei Jahre lang die Rolle eines amputierten Bettlers ein. Pellicer soll das Bein ja genau unterhalb des Knies amputiert worden sein. Das passt hierzu sehr gut, denn das Knie eines zusammengebundenen Beines kann auf den ersten Blick wir ein Amputationsstumpf wirken.
Später, als er wieder zu Hause in Calanda war und gezwungen war, in einem anderen Bett zu schlafen, wurde seine List entdeckt. Die Geschichte des Wunders war dann ein Weg, sein Gesicht zu wahren.
Bei den Zeugenaussagen sieht Dunning auch große Ungereimtheiten. Zwei der von Pellicero genannten Ärzte (Estanga und Millaruelo) seien zwar im Verfahren befragt worden. Keiner von beiden hätte jedoch angegeben, dass sie an der Amputation seines Beins beteiligt gewesen seien.
Dunning kommt zu dem Schluss, dass die offiziellen Beweise unzureichend für die wundersame Wiedererlangung des Beines seien.
Die sehr wahrscheinliche Erklärung ist nach dem Prinzip von Ockhams Rasiermesser der erwähnte Bettler-Amputationstrick. Denn dieser stellt die einfachste Erklärung dar, die allen anderen Thesen vorzuziehen ist.
Resümee
Die Tatsache, dass offenbar nur ein einziges solches vermeintliches Wunder dokumentiert ist, sollte nachdenklich machen. Es ergibt wenig Sinn, dass Gott – unter der Annahme, es gäbe ihn – nur ein einziges Mal eine Amputation heilt. Zudem macht der geringe Bekanntheitsgrad des angeblichen Wunders nachdenklich, obwohl es spektakulär erscheint. Obwohl hier sogar alles angeblich so gut dokumentiert und notariell beglaubigt ist, findet sich im Netz wenig darüber.
Laut ChatGPT hat der Vatikan das Wunder anerkannt.
Bestätigende Berichte hierzu habe ich bislang aber keine gesehen, nur Andeutungen. Ich werde mal den Vatikan anschreiben, um ganz sicherzugehen.
Überzeugend wäre es, wenn es in der heutigen Zeit Berichte über solche Heilungen gäbe. Würden Amputierte in unserer Zeit von wiedererlangten Gliedmaßen berichten, könnten diese Fälle anhand von Bildmaterial und ärztlichen Unterlagen hervorragend untersucht werden. Wären es gar prominente Menschen, die keine Zwillingsgeschwister haben und stolz ihr „neues“ Bein präsentieren, könnte sich jeder selbst von dem Wunder überzeugen. Ein Betrug würde schnell auffliegen, da unzählige Skeptiker alles genau überprüfen würden.
Nun aber gibt es keine Berichte über solche Heilungen aus der Jetzt-Zeit. So darf man immer noch fragen: Warum heilt Gott (heute) keine Amputationen?
Eine Antwort auf „Il Miracolo – Die angebliche Wunderheilung eines Amputierten“
Menschen, die Amputationen vortäuschen, hat es wohl zu allen Zeiten gegeben. Man nennt sie auch „Wannabe“ (Want to be). Oft entstehen dabei Schäden, die eine richtige Amputation erforderlich machen.