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Polybius – das Arcade-Spiel, das es vermutlich nie gegeben hat

Polybius
Rekonstruiertes Gehäuse des Spielautomaten. So könnte er ausgesehen haben. Foto: DocAtRS / Lizenz: CC BY-SA 3.0

Ein Arcade-Spiel, das möglicherweise nie existiert hat? Man sollte annehmen, dass es in unserer modernen Zeit möglich ist, so etwas eindeutig zu klären. Selbst wenn von dem originalen Spielautomaten keine Exemplare mehr gibt, dann ließe sich die Existenz des Spiels doch durch Zeitungsberichte, Flyer, Fotos usw. belegen. Wir zeichnen doch so viel auf. Die Existenz des historischen Jesus Christus lässt sich nicht mehr zweifelsfrei nachweisen. Aber ein Spielautomat, der in den frühen 1980er-Jahren aufgestellt wurde? Doch ganz so einfach ist es nicht. Und dennoch haben Sie heute die Möglichkeit, Polybius zu spielen. Dazu mehr im Bericht.

Polybius-Start
Startbildschirm (PC-Freeware-Version)

Im November 1981 sollen in einigen Vororten von Portland, Oregon, USA, Spielautomaten mit dem Spiel Polybius aufgestellt worden sein. Im Startbildschirm soll der Herstellername „Sinnesloeschen“ aufgetaucht sein.

Polybius-Spiel
Polybius in Aktion. Wer gesund ist und einen starken Magen hat, kommt sicherlich gut durchs Spiel. Um nicht seekrank zu werden, lassen sich die Effekte aber auch abschalten (PC-Freeware-Version)

Ähnlich wie bei dem damals populären Atari-Spiel Tempest mussten abstrakte geometrische Formen in einem Tunnel abgeschossen werden. Schnell wechselnde, teilweise kaleidoskopartige Lichteffekte und Blitze in verschiedenartigen Formen und Farben füllten die Szenerie. Geräuscheffekte hatten eine hohe Abfolge, auch über unterschwellige akustische Botschaften (wie „Gehorche!“ oder „Konsumiere!“) wurde berichtet. Angeblich sollen die Spielautomaten von Männern in schwarzen Anzügen beobachtet worden sein. Diese sollen während des Spielbetriebs aufgezeichnete Daten heruntergeladen haben. Bei den möglichen ominösen Absichten gibt es eine große Bandbreite: Ein Programm zur Rekrutierung von Soldaten könnte es gewesen sein, aber auch die Fortführung des Geheimdienstprogramms MKUltra, einem Forschungsprogramm der CIA zur Bewusstseinskontrolle.

Der Gesundheit zuträglich soll das Spiel nicht gewesen sein. Es soll zu epileptischen Anfällen, Gedächtnisstörungen, Krämpfen, Halluzinationen, Schlafstörungen, Panik und Depression gekommen sein. Sogar über Suizide in Verbindung mit dem Spiel wurde berichtet.

Polybius-Warnung
Vorgeschaltete Warnung noch vor dem Startbildschirm. Der Text frei übersetzt: „Polybius verwendet spezielle visuelle und akustische Effekte. Personen, die zu Krämpfen, der Reisekrankheit oder zu Herzrhythmusstörungen neigen oder psychoaktive Substanzen nehmen, sollten Polybius nicht spielen“ (PC-Freeware-Version)

Speziell der Hinweis darauf, dass das Spiel bei Photosensibilität epileptische Anfälle auslösen konnte, soll es nach wenigen Wochen wieder vom Markt verschwunden sein.

Konkret soll  ein Kind nach dem Spiel einen epileptischen Anfall erlitten haben.

Auch hier machten Gerüchte die Runde: Männer sollen die Geräte auf Lkw geladen und mit ihnen verschwunden sein.

Die Zweifel

Merkwürdig ist, dass trotz umfangreicher Recherchen keine Erwähnung des Spiels vor Februar 2000 nachgewiesen werden konnte. Zwar wird über jedes neu erschienene Computerspiel in der Presse berichtet, aber wegen der gesundheitlichen Gefahren sollte man annehmen, dass die Presse nicht untätig geblieben war.

Der Spielentwickler soll ein gewisser Steven Roach gewesen sein, wie in einem Interview des Gamepulse Magazin vom 2. März 2007 berichtet wurde. Inzwischen ist bekannt, es ist ein Pseudonym.

Roach will das Spiel 1980 in der Tschechoslowakei zusammen mit seinem Geschäftspartner Marek Vachousek im Auftrag einer Firma aus Südamerika entwickelt haben. Seit 1965 will er sich in der Tschechoslowakei aufgehalten haben, da seine Eltern dort ein Handelsunternehmens gehabt haben sollen. Das ist aber mehr als nur unglaubwürdig, da es damals keine privaten Software- oder Handelsunternehmen in der Tschechoslowakei gab und Privatleute keinen Zugang zu westlicher Computertechnologie hatten. Im damaligen Ostblock wären Geschäfte mit den USA unvorstellbar gewesen.

Vachousek will an der Masaryk-Universität (Brünn, heute Tschechien, damals Tschechoslowakei ) griechische Mythologie studiert und so auf den Namen Polybius gekommen sein. Bei Polybios (in diesem Zusammenhang ist die Schreibweise mit „o“ üblich statt mit „i“) handelt es sich aber nicht um eine mythologische, sondern eine historische Figur der griechischen Geschichte. Erschwerend kommt dazu, dass es an dieser Universität keinen Studiengang „griechische Mythologie“ gibt und auch übrigens keinen Studiengang „griechische Geschichte“.-

Der historische Polybios

Der historische Polybios war ein griechischer Geschichtsschreiber, der um 200 v. Chr. geboren wurde und um 120 v. Chr. starb. In seinem Hauptwerk Historial beschreibt er in ursprünglich 40 Büchern die Universalgeschichte Roms über den Zeitraum vom Beginn des Ersten Punischen Krieges bis zur Zerstörung Karthagos und Korinths. Ursprünglich war Polybios Politiker. Er gilt als einziger griechischer Zeithistoriker, von dessen Werk größere Teile erhalten sind. Seine Theorie des Verfassungskreislaufs ist bedeutend.

Nach Polybios wurde zudem ein Verschlüsselungsverfahren benannt, das zur Nachrichtenübermittlung und Kryptographie entwickelt wurde. Ein ähnliches Verfahren wurde bereits vom historischen Polybios beschrieben. Konzepte des Verfahrens wurden noch im 20. Jahrhundert in weiterentwickelter Form verwendet, auch Klopfzeichen in der Gefängniskommunikation basieren darauf.

Auch der Mondkrater Polybius und der Asteroid (6174) Polybius (nun wieder jeweils die Schreibweise mit „u“) sind nach dem historischen Polybios benannt.

Gab es das Spiel?

Umfassende Recherchen lassen erhebliche Zweifel aufkommen, dass das Spiel je existiert hat. Aber es könnten reale Ereignisse die Basis für eine spätere Legendenbildung gegeben haben.

Dabei passen zwei Berichte gut ins Bild: Ein Spieler hat am 27. November 1981 versucht, einen Asteroids-Rekord aufzustellen. Nach 28 Stunden ist er mit Krämpfen zusammengebrochen. Am gleichen Tag erlitt ein anderer Spieler bei Tempest einen Migräneanfall. Diese Fälle sind zumindest hinreichend dokumentiert. In Oregon gab es zudem in dieser Zeit eine koordinierte Razzia gegen manipulierte Glücksspielautomaten, wobei zahlreiche Automaten in Arcade-Hallen konfisziert wurden. Auch wenn es sich um andere Spiele handelte, sind tatsächlich einige Bestandteile der Polybius-Legende nachgewiesen. Der Rest ist wohl ein Mythos.

Das Spiel in Literatur, Filmen und TV-Serien

Das Thema Polybius wird immer mal wieder aufgegriffen. So ist in einer Simpsons-Folge ein Polybius-Spielautomat zu sehen. Im Roman Armada von Ernest Cline dient der Spielautomat der Rekrutierung von Soldaten eingesetzt.

Das Spiel zum kostenlosen Spielen für jedermann

Das Spiel, das es vielleicht nie gab, gibt es doch, und zwar als Freeware (veröffentlicht 2007) für Windwos-PCs zum Download. Berechtigte Zweifel, ob das Spiel der Version des originalen Spielautomaten – sollte es ihn je gegeben haben – entspricht, sind natürlich erlaubt.

Laut Readme-Datei ist das Spiel eine „Emulation der Version von 1981 in ihrer ursprünglichen Form“, was den Skeptikern, die davon ausgehen, dass es das Spiel nie gegeben hat, schon sehr viel abverlangt.

Etwas weiter unten in derselben Datei heißt es aber „Es ist schwer zu sagen, dass dies eine originalgetreue Nachbildung des Spiels ist, aber hoffentlich kommt es dem Mythos nahe“, was den Spieler endgültig verwirren dürfte. Dem Spielspaß tut das aber keinen Abbruch.

Polybius-Code-Eingabe
Polybius: Code-Eingabe zur Freischaltung der erweiterten Funktionen (PC-Freeware-Version)

Um zusätzliche Funktionen freizuschalten, wird ein Code benötigt. Dieser muss nicht für harte Dollars gekauft werden, sondern ist praktischerweise in der Readme-Datei enthalten. Sehr nett ist, dass der Code auf der oben erwähnten Polybios-Chiffriermethode beruht, die in den Ursprüngen schon vor über 2.000 Jahren von Polybios entwickelt worden waren. Das bedeutet, das Spiel hat spätestens jetzt mit dem griechischen Zeithistoriker Polybios zu tun. Konkret muss der Spielname „Polybius“ in Polybios-chiffrierter Form eingegeben werden. Es muss aber nichts selbst verschlüsselt werden, der Code ist fertig vorhanden.

Dass das Ganze nicht so ernst zu nehmen ist, zeigt eine Option im Spiel, mit der Verschwörungselemente hinzugeschaltet werden können, etwa unterschwellige Botschaften und sogar eine ominöse Satelliten-Upload-Funktion. Die vielfältigen Optionen sind erstaunlich und bieten ein großes Experimentierfeld.

Das Spiel läuft unter älteren wie auch neueren Versionen von Windows. Entpacken Sie die heruntergeladene Zip-Datei in einen am bestem neu angelegten Ordner. Das Spiel wird mit Doppelklick auf  Polybius 6-1.exe gestartet.

Sollte jetzt eine DirectPlay-Fehlermeldung angezeigt werden, drücken Sie [Windows]+[R], geben „control“ ein, drücken Return, wählen „Programme und Features“,  dann „Windows-Features aktivieren oder deaktivieren“, schließlich „Legacykomponenten“ und aktivieren „DirectPlay“. Folgen Sie den weiteren Anweisungen.

Hinweise zur Steuerung des Spieles und viele weitere interessante Informationen enthält die Datei Readme.txt.

Im Mai 2017 brachte Llamasoft  für die Playstation mit VR-Unterstützung ebenfalls eine Polybius-Version auf den Markt. Die Grafik des Spiels ist wie zu erwarten weit besser als beim Original. Auf Amazon kann man sich nach Eingabe des Suchbegriffs „Polybius Playstation“ Screenshots anschauen, aber der Lagerbestand war im Juni 2025 auf null, und ich wage die Prognose, dass sich das nicht mehr ändern wird. Eine gebrauchte Version lässt sich aber vielleicht noch irgendwo ergattern.

Quellen

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